Neun Wozas sangen wieder mit: Jüdische Freitagabendliturgie von Heinrich Schalit unter der Leitung von Johannes Vetter

Es waren zwei besondere Konzerte: Neunzig Jahre nach der Uraufführung wurde unter der Leitung unseres Chorleiters Johannes Vetter die Freitagabendliturgie von Heinrich Schalit (1886-1976) im Rahmen der Veranstaltung „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ in Herford und Lemgo wiederaufgeführt.

Projektchor und Johannes Vetter

Ganz im Sinne des deutsch-jüdischen Komponisten Louis Lewandowski, der sich im 19. Jahrhundert für eine jüdische Liturgie-Reform engagierte, besteht die Besetzung von Schalits Freitagabendliturgie aus einem Vorbeter und gemischtem Chor, die von einer Orgel begleitet werden. Johannes Vetter hat aus Mitgliedern des evangelischen Kirchenkreises Gütersloh sowie aus Laienchören einen vierstimmigen Projektchor gebildet, dem auch neun Sängerinnen und Sänger des Wozachores angehörten.

Im Mittelpunkt der Konzerte stand natürlich Schalits Werk, dessen Text sich streng an den Gebeten zu Beginn der Schabbatfeier in Synagogen orientiert. Bis auf das Eingangsgebet (mah-towu), das Schalit in deutscher Sprache singen lässt („Wie schön sind deine Zelte, Jakob“), wird die Liturgie in Hebräisch gesungen. Bei einem Konzert 2017 in Jerusalem, für das Johannes ebenfalls verantwortlich zeichnete, stellte eine ältere Frau fest, dass es das Hebräisch ihrer Eltern und Großeltern war, das in Berlin vor 1933 gesprochen wurde. Den Gesang des Vorbeters übernahm Lorin Wey, Tenor der Städtischen Bühnen Bielefeld, die Orgel spielte Adrian Büttemeier, Berliner Domkantor, der auch bei dem Jerusalemkonzert dabei war.

Die Freitagabendliturgie war wohl für viele Besucher*innen der Herforder Marienkirche Stiftberg und Lemgoer Kirche St. Nicolai die erste Begegnung mit einem wichtigen Ritual der Jüdischen Kultur. Vor dem Hintergrund des aggressiver werdenden Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg versuchte Schalit, eine neue jüdische Musiksprache zu entwickeln, die sich auch an der Musik der palästinensischen Juden orientierte. Diese Verbindung zweier Musiktraditionen forderte, sich auf neue, oftmals ungewohnte Melodien und Hörgewohnheiten einzulassen. Und sie begeisterte. Lorin Weys Gesang war kraftvoll und berührend zugleich. Da dem Vorbeter die wichtigste Rolle in der Liturgie zukommt, trug er eine große Verantwortung. Er verstand es aber, nicht zu dominieren, sondern mit dem Chor eine harmonische Einheit zu bilden.

Der Projektchor, der in einem steten Dialog mit dem Vorbeter stand, war sehr präsent und nahm diese Rolle mit äußerster Präzision wahr. Vor allem die längeren Gesänge, wie der Psalm 93 (Adonaj moloch) oder das hymnische Weschomeru hätten wohl manche gern noch einmal als Zugabe gehört. Aber eine Liturgie in Einzelstücke zu zerlegen, war natürlich nicht möglich.

Das Orgelspiel von Adrian Büttemeier begeisterte, auch wenn Schalit es den an der Synagogalmusik des 19. Jahrhunderts orientierten Zuhörenden nicht einfach macht. Vor allem das Orgelspiel vor dem Eingangsgebet und das Postludium entwickelten eine kraftvolle Intensität, der man sich nicht mehr entziehen konnte. Hier beginnt etwas Neues, hier setzt sich der Schabbat vom Alltag ab. Das im Gegensatz dazu stehende, oftmals zurückhaltende Orgelspiel bildete eine unverzichtbare Klammer zwischen Vorbeter und Chor.

Die Freitagabendliturgie stand im Mittelpunkt. In beiden Konzerten sang der Chor zudem synagogale Chormusik von Salomone Rossi aus dem späten 16., frühen 17. Jahrhundert und von Louis Lewandowski aus dem 19. Jahrhundert. Vor allem die Lieder von Lewandowski (Psalm 23 und 121), die sich musikalisch an der Romantik orientieren, zeigen, wie nah sich Christentum und Judentum nach der Emanzipation im 19. Jahrhundert gekommen waren, bevor der Antisemitismus einen mörderischen Keil zwischen den Religionen geschlagen hatte, der in Auschwitz endete.

Das Blechbläserensemble ZION unter der Leitung von Joachim von Haebler rundete nicht nur die Konzerte ab, es bildete einen eigenständigen Beitrag. Das Ensemble spielte „urbane Musik“ jüdischer Komponisten (Karol Rathaus, Ernst Bloch, Joseph Horovitz). Dabei erinnerte das konzertante Spiel des Ensembles kaum an Posaunenchöre, die einen evangelischen Gottesdienst begleiten. Obwohl die Konzerte in Kirchen stattfanden, waren nicht wenige Besucher*innen geneigt, bei Stücken wie „Tower Music“ oder „Musical-Suite“ mit den Fingern zu schnipsen.

Im Vorfeld der Konzerte hat Johannes Vetter gesagt: „Was oftmals schier unmöglich erscheint – der Musik gelingt es: sie schafft es, Brücken zu bauen!“ Die Konzerte haben diese Vision mit Bravour erfüllt. Glücklich jene, die dabei sein durften.

 

(Bernd J. Wagner)